Lila 39

In einem Monat und einem Jahr werde ich 40. Dazu gibt es eigentlich nichts zu sagen. Ausser vielleicht, dass mich nichts und niemand auf dieses Ereignis vorbereitet hat. Weil es unerreichbar schien. Mein Leben hätte laut ärztlicher Voraussage mit 20 zu Ende sein sollen. Interessanterweise begann es zu diesem Zeitpunkt erst oder erst richtig. Als ich es selber in die Hand nahm. Nicht auszudenken also, hätten die Ärzte recht behalten. Ich hätte die beste Hälfte verpasst.

40. Darf man sich dann immer noch lila Extensions leisten? Links und rechts von Gesicht. Also dort, wo die Haare noch fast glatt sind. Dezent, könnte man sagen, wären sie nicht lila. Die Pracht hält gut einen Monat. Mit etwas Glück sogar zwei oder mehr. Wenn man die Strähnen dann in der Hand hält, sagt man sich: das war‘s. Nur um dann beim nächsten Coiffeurbesuch doch wieder schwach zu werden. Weil man ja noch nicht 40 ist. Und natürlich auch, weil man gerne eine coole Tante ist. Zumindest bei Moritz, dem älteren meiner Neffen, scheine ich damit zu punkten. Ihm gefällt die Farbe in meinen Haaren.

Letzten Mittwoch war es wieder so weit. Schneiden und ein bisschen lila im „Hänsel und Gretel“. Märchenhaft ist nicht nur der Name dieses Ladens, sondern auch die Einrichtung. Gold und Pastellfarben. Und der grosse Spiegel trägt ein Krönchen. Nur die Meisterin selber hat nichts märchenhaftes an sich, dafür immer wieder ausgefallene Frisuren. Ich beneide sie um ihre Experimentierfreudigkeit, die weit über ein paar farbige Strähnchen hinausgeht.

Meine neuste Amazon-Lieferung lässt auf sich warten. Und da mein Kathy Reichs-Vorrat ausgegangen ist, habe ich jetzt Zeit, mir Ildiko von Kürthys neustes Buch vorzunehmen. „Endlich!“ heisst es und handelt von Frauen im Alter von 40 und darüber.Die in diesem Zeitraum die zweite Pubertät durchmachen. Behauptet jedenfalls die Autorin.
Na prima. Soll das jetzt aufmuntern, weil in diesem Fall farbige Haare auch jenseits der Vier und der Null erlaubt sind. Aber sonst. Reicht nicht eine Pubertät? Ich meine, dien
ganzen Selbstfindungskram einmal durchzumachen, sollte doch genug sein? Abgesehen davon ist man ja sein Leben lang und so weiter.
Wahrscheinlich sollte ich zuerst mal das Buch lesen.

Ich muss an meine Zimmernachbarin im Studentenhaus, wo ich zu Beginn des Studiums wohnte und von dem etwas Sanatoriumhaftes ausgeht, denken. Ich war gerade 20 geworden und hatte von nichts eine Ahnung. Sie war abgeklärte 30. Bei einem meiner Besuche sah ich eine Karte, auf der stand: „Thirty and better than ever.“ Und ich dachte, wie cool muss es sein, 30 zu werden. Mit 20 findet man allerdings noch vieles andere cool. Und somit will das nichts heissen.

Ich mag Geburtstage eh nicht sonderlich, und runde erst recht nicht. Primzahlig sind diese unvermeidbaren Tage am erträglichsten. Auch weil die Natur oder Gott, oder was auch immer die Zahlen erschuf, es so eingerichtet hat, dass die Primzahlen immer seltener werden, je weiter man zäht. Das wirft dann auch die Frage auf, ob es eine höchste Primzahl gibt. Vielleicht gib es tatsächlich eine höchste Primzahl. In der Unendlichkeit. Was oder wo das auch immer sein mag. In Bezug auf Geburtstage ist das allerdings irrelevant.

Zurück in die Endlichkeit: Mein Löwenzahn wächst munter - so munter, dass ich den Ingwer evakuieren musste. Mittlerweile gucken zwischen den Blättern vier Knospen hervor. Und das typische Gelb kann man erahnen. Und das Ende September. Verrückt.
Wie sich der Ingwer entwickeln wird, ist dagegen fraglich. Und es wird eine Weile dauern, bis da etwas blüht. Falls überhaupt. Aber es ist ja auch kein Unkraut.

Löwenzahn

Der Mangostein entwickelte sich gut, fiel dann aber der Staunässe zum Opfer. Ich wusste nicht, dass das bisschen zu viel an Wasser schon so schnell so viel anrichten kann. Allerdings gibt es noch vieles, von dem ich keine Ahnung habe. Zwar liebe ich Pflanzen. Aber von der Anzahl Grünzeugs auf die Grösse und Güte des grünen Daumens zu schliessen ist zumindest in meinem Fall keine gute Idee. Bei mir wächst nur, was auch einmal zu oder zu wenig Wasser und anderes einstecken kann. Und Attacken von vorwitzigen Katern (hier, und noch andere Fotos).

Inzwischen gedeiht das Unkraut munter: Klee im Topf der Hyazinthe, Löwenzahn beim Ingwer. Ich lasse es mal, wie es ist. Man kann nie wissen, ob sich das unscheinbare Pflänzchen nicht doch in eine Schönheit verwandelt. Erst recht nicht, wenn man sich in Sachen Pflanzen nicht gerade gut auskennt. Und sowieso, auf einem Balkon ist schnell gejätet.

In der Küche tut sich endlich etwas. Meine Schwester brachte mir die fehlenden Teile fürs zweite Regal. Wo jetzt noch Chaos dominiert, und gewisse Leute zu nicht endend wollenden Lachanfällen animiert und mich - wenn man einen nicht idealen Zeitpunkt erwischt - zu Gedanken wie „Rrrr ….aus hier“, die aber nicht ausgesprochen werden. Man will ja nicht kleinlich sein. Also beisst man die Zähne zusammen, trommelt mit den Fingern auf den Tisch und wartet demütig, bis sich das Gelächter legt.

Das Auf- und Einräumen wird jetzt schneller gehen. Erst recht, da ich anfange anzukommen. Es ist effektiv so, dass man eines Morgens aufwacht und fühlt, dass etwas anders ist. Selbstverständlicher? Oder hängt es nur damit zusammen, dass ich nicht mehr jeden Tag einmal denke, dass ich ohne Murren meine Sachen wieder einpacken würde und Umzug Nr. zehn organisieren und so weiter?

Wer mich fragt, ob es denn hier gefällt, bekommt immer noch ein Grunzen zu hören und hin und wieder folgt ein Vortrag über den Gebrauch des Wortes „gefallen“ bzw. dass es in diesem Fall nicht so angebracht ist. Ich meine, welcher noch nicht 40-Jährigen gefällt es in einer Alterssiedlung oder, wenn man auf eine Beschönigung verzichten will, im Altersheim?
Und trotzdem, die Normalität hält langsam Einzug. Um einiges schneller als erwartet. Was wahrscheinlich an der gewohnten Umgebung liegt. Also zahlt sich das „Ich will hier nicht weg“ auf jeden Fall aus. Und auch meine Erfahrung mit unüblichen Situationen und sich darin einen Platz zu suchen und ihn oft (nicht immer, z.B. in Kiel habe ich es nicht geschafft. Aber das war wohl auch nicht vorgesehen) auch zu finden, ist auch eine Hilfe. Obwohl ich jeweils am Anfang daran zweifle und das Gefühl habe, ich müsse wieder bei Null anfangen. Auch in Bezug auf Erfahrung. Was für ein Irrtum. Zum Glück.

Vor etwa zwei Wochen kam der Gedanke an eine Einweihungsparty auf. Kaum zu glauben, aber ich habe in all den Jahren keine einzige abgehalten. Nach dem Umzug war ich jeweils zu k.o., um etwas zu veranstalten. Zudem hatte ich das Gefühl, dass man einigermassen eingerichtet sein sollte. Nicht perfekt. Aber es sollte aussehen wie eine Wohnung und nicht wie ein Brockenhaus. Und irgendwie war es dann immer zu spät. Und das wird diesmal nicht anders sein. Auch weil ich es zu schräg finde? Wer gibt schon eine Einweihungsparty im Altersheim. Aber das ist natürlich kein Argument. Und man könnte sagen: Dann erst recht. Bleibt noch die Jahreszeit als Ausrede. Denn darauf läuft es doch hinaus, oder? Dass man eine gute Ausrede findet. Fürs Grillieren auf der Dachterrasse ist es jetzt zu kühl. Als elegante Lösung könnte man auch „Einzug vor einem Jahr“ feiern. Der 9. Juli war ein Freitag. Und so wird es nächstes Jahr ein Samstag sein. Perfekt.
Theoretisch zumindest.

Monat zwei

Und ich schreibe immer noch munter über Balkonbepflanzung und andere alltägliche Dinge. Statt tief schürfende Abhandlungen übers Leben und dessen Schwierigkeiten zu verfassen. Und über die Überwindung der Schwierigkeiten oder über das grandiose Scheitern. Oder über all das, was dazwischen liegt.
Mittlerweile bin ich überzeugt, dass andere das besser können.

Der zweite Monat in meiner neuen Bude geht zu Ende. Und die letzte Schachtel habe ich gestern ausgepackt. Jetzt ist der halbe Wohnzimmerboden voller Bücher, gestapelt. Und ich fange an zu ahnen, dass mir der Platz fehlen wird, wenn Amazon mir weiterhin fast jede Woche ein Paket schickt. Wobei das natürlich nicht Amazons Schuld ist. Ich kann die Finger nicht vom Bestellen lassen. Es geht so einfach mit ein paar Klicks und einer Kreditkarte. Der Kunde ist wieder König?

Meine neuste literarische Entdeckung: Kathy Reichs. die Geschichten rund um die forensische Anthropologin Dr. Tempe Brennan sind gruselig und definitiv nichts für Zartbesaitete. Aber sehr gut geschrieben und spannend.
Inzwischen habe ich mit dem dritten Roman begonnen. Und es sieht ganz so aus, als könnte ich mit den Büchern mehr anfangen als mit der Serie (Bones). Ich habe mir die erste Staffel gekauft Ich war neugierig. Aber auch nach drei Folgen bin ich noch nicht so recht warm geworden. Aber in diesem Fall stört das nicht weiter. Im Moment lese ich lieber.

Nach dem Abendessen - in Gesellschaft einer 90jährigen Dame, die sehr liebenswürdig ist, ein bisschen eitel, und eine spitze Zunge hat und für fast jeden Blödsinn zu haben ist - nehme ich meine aktuellen Tempe-Roman und mache es mir auf der Dachterrasse bequem. Es ist immer noch warm genug. Und es bleibt noch eine Stunde, bis die Sonne unter geht.
Ob mir solche Rituale helfen, definitiv hier anzukommen?
Mir fehlt die gewohnte Aussicht mitten in der Nacht, wenn ich in der Küche sitze und lese und die Ruhe geniesse. Keine farbigen Glühbirnen mehr, die durch die Blätter scheinen. Dafür vierzehn knallrote Buchstaben. Die Kantonspolizei logiert gleich gegenüber. Und das ist nicht zu übersehen. Die ganze Nacht lang. Da ist der Garagenbesitzer etwas gnädiger. Ab Mitternacht bis etwa sechs Uhr morgens brennt nur ein schwaches Licht im Ausstellungsraum. Und sonst scheinen die orangefarbenen Strassenlampen in die Wohnung und hin und wieder Scheinwerferlicht.
Städtisches Nachtleben.