Karin Bamert, 30, erforscht die Sonne. Sie ist taub.
Als Zehnjährige erhielt sie die Diagnose der seltenen, genetisch
bedingten Krankheit Neurofibromatose

Unter der Woche bleibe ich nie liegen, auch wenn mir danach ist. Da bin ich sehr diszipliniert. Um sieben stehe ich auf, koche mir Milchkaffee und heize den Holzofen ein. Eineinhalb Stunden später bin ich an der Uni Bern, Abteilung für Weltraumforschung und Planetologie, wo ich an meiner Dissertation arbeite.
Zuerst hole ich meinen obligaten Apfelkrapfen und trödle ein wenig herum, bevor ich richtig anfange. Wenn ich ein Programm schreibe, lasse ich mich nicht unterbrechen, denn ich mache keine Notizen, sondern entwerfe alles im Kopf. Eines der vielen Instrumente auf der Raumsonde SOHO misst so genannte suprathermale Teilchen, deren Energie ist etwas grösser als die des Sonnenwindes, also der Teilchen, die kontinuierlich von der Sonne wegströmen. Diese Daten werte ich aus. Konkret heisst das, den ganzen Tag am Computer zu sitzen und mit Formeln und Modellen zu arbeiten, mit Kollegen zusammen, die über die ganze Welt verstreut sind. Das fordert mich und macht Spass, nur bezahlt ist es schlecht.
Als in den siebziger Jahren die Voyager-Sonden ins All gesandt wurden, beschloss ich, Astronomin zu werden. Mit zehn Jahren verschlang ich ein Astronomiebuch, ohne viel zu verstehen. Zwischenzeitlich wollte ich Ärztin werden, doch da ich bereits als Teenager ertaubte, begrub ich diesen Traum. Heute habe ich ein gespaltenes Verhältnis zu Ärzten, ich habe wohl zu viel mit ihnen zu tun. Wenn möglich verkehre ich per e-Mail mit ihnen, um Zeit zu sparen. Vor einem Jahr liess ich mir ein Hirnstammimplantat einpflanzen, das mir das Gehör zurück geben sollte. Leider funktioniert es nicht. Das Physikstudium habe ich von A bis Z allein durchgezogen, ohne Sonderbehandlung, mit Lippenlesen und Literatur. Das hat mich acht Jahre gekostet und war nicht sehr vernünftig. Dass ich es auf diese Weise schaffte, hat mir jedoch Selbstvertrauen gegeben. Mit der Sonnenforschung habe ich nun ein wichtiges Ziel erreicht.
Meine Diagnose erhielt ich als Zehnjährige. Neurofibromatose Typ 2 ist eine seltene, genetisch bedingte Krankheit, die Tumoren und damit Lähmungen verursacht. Meine Mimik ist sehr eingeschränkt. Da die Krankheit vererbbar ist, kam für mich eine eigene Familie nie in Frage. Seit fünf Jahren lebe ich nun wieder allein, und mittlerweile brauche ich diesen Raum für mich. Eine Liebesbeziehung wäre schön, doch sie müsste speziell sein, etwas ausserhalb der Norm, wie auch ich es bin.
Manche Menschen schrecken vor mir zurück, als sässe der Tod auf meiner Schulter. Das ist traurig, denn wie kann man ein gutes Leben führen, wenn man Angst hat vor dem Tod? Meine einzige Angst ist, die Selbständigkeit zu verlieren. Um meine Selbstbestimmung bis zuletzt zu wahren, habe ich eine umfangreiche Patientenverfügung unterschrieben.
Mit meinem Freundeskreis habe ich grosses Glück. Privat wie beruflich gerate ich immer wieder an die richtigen Leute. Sie würden es nicht akzeptieren, wenn ich passiv herumsitzen und mich bemitleiden würde. Doch das fiele mir auch nicht ein. Ich versuche, meine Zeit möglichst sinnvoll zu nutzen. Dafür möchte ich nicht bewundert werden, und Mitleid ertrage ich erst recht nicht.
Zu Mittag esse ich in der Mensa, um gleich weiter zu arbeiten. Dann kaufe ich frisches Brot und gehe nach Hause, solange es hell ist. Wenn es dunkel wird, ist die Welt fast zweidimensional, und da ich über keinen Gleichgewichtssinn mehr verfüge, wird das Gehen dann schwierig. Auch Radfahren kann ich nicht mehr. Früher habe ich vieles mit Kraft kompensieren können, heute fehlt mir diese.
Den Abend verbringe ich zuhause. Ich schreibe über Dinge, die mich beschäftigen, lese Bücher oder schaue fern. Meistens gehe ich früh ins Bett. Notgedrungen habe ich gelernt, mit meiner Energie sorgsam umzugehen.
Abgesehen davon, dass die Krankheit mir immer mehr Möglichkeiten nimmt und mich letztlich umbringen wird, hat sie mich befähigt, zwischen wichtigen und unwichtigen Dingen zu unterscheiden. Dazwischen gibt es für mich nichts mehr. Jedes Mal, wenn sie mich mehr einschränkt, tun sich dafür neue Spielräume auf. Kürzlich nahm ich beispielsweise an einer Geophysiktagung in San Francisco teil. Ein Wahnsinn in meinem Zustand, ich weiss. Doch für mich war es ein Wahnsinnserlebnis.

© by Lisa Ibscher und „Das Magazin